«Arbeitsplätze statt Öko-Terror?»
Neu im Staatsarchiv – Das Archiv der Freisinnig-Demokratischen Partei des Kantons St.Gallen (W 353)
Auf den ersten Blick scheint es kaum etwas Öffentlicheres zu geben als die Politik (und nichts Kurzlebigeres als die politische Werbung). Bei Parlamentsdebatten können wir problemlos per Livestream mit dabeisein, politische Diskussionen lassen sich in Radio, Fernsehen, Internet oder Zeitung nachvollziehen. Und im Vorfeld von Wahlen oder Abstimmungen drängen lächelnde Kandidatinnen und Kandidaten und die mal mehr oder weniger kreativen oder gar provokativen Slogans der Parteien in Gestalt von Plakaten, Flyern, Standaktionen und Goodies in unsere Briefkästen und Fussgängerzonen. Kombiniert mit den Zweifeln an der Wirksamkeit von Werbung überhaupt könnte man meinen, dass es sich kaum lohnt, die insgesamt doch meist recht flüchtigen Erzeugnisse der (Partei-)politik dauerhaft für die Nachwelt erhalten zu wollen. Weit gefehlt, wie das seit Kurzem vollständig erschlossene historische Parteiarchiv der FDP St. Gallen beweist!
Auf rund 40 Laufmetern und über einen Zeitraum vom Ende des 19. Jh. bis ins 21. Jh. zeichnen Briefe, Protokolle, Fotos, Videos und Filme, Plakate und andere Objekte nicht nur die Entwicklung der freisinnigen Parteiorganisation nach, sondern entfalten auch ein spannendes Panorama des politischen Kulturwandels–von den martialisch-patriotischen Schlachtenmetaphern und Massenveranstaltungen der Zwischenkriegszeit bis zu den Merchandise-Artikeln und komplexen Werbekonzepten, welche die Wahl- und Abstimmungskämpfe in der Schweiz seit den siebziger Jahren zunehmend prägen. Ergänzt wird der Bestand durch eine reichhaltige und ausführliche Sammlung von Fotos und Personendossiers zu zahlreichen Politikerinnen und Politikern, welche die FDP St.Gallen in den Gemeinden, im Kanton und auf Bundesebene vertreten und vertreten haben.
Die Liberale bzw. ab 1912 Freisinnig-Demokratische Partei des Kantons St.Gallen prägte während Jahrzehnten die politische Landschaft des Ringkantons mit. Als Gegenspielerin der katholisch-konservativen Kräfte und der Sozialdemokraten verstand sich die FDP St.Gallen bis zum Aufstieg der SVP als die integrierende Volkspartei der Mitte, die den polarisierenden Auswirkungen des Klassenkampfs und des Konfessionalismus die im bürgerlich-liberalen Staat gezügelte Freiheit des Einzelnen gegenüberstellte.
Dabei hat sich das Verhältnis des Freisinns zum Staat mit der Zeit auch immer wieder gewandelt: Trat die FDP etwa bei den Vorlagen zur Schaffung eines Schweizerischen Strafgesetzbuchs oder einer von der FDP St.Gallen lancierten Initiative zur Verschmelzung der konfessionellen Schulgemeinden als politische Gegnerin von Föderalisten und Konservativen auf, stand sie der als zu etatistisch kritisierten Vorlage der Kommission Furgler für eine Totalrevision der Bundesverfassung eher ablehnend gegenüber. 1992 zog die Bezirkspartei St.Gallen (wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck der Erfolge der Auto-Partei und der Proteste gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen ) mit dem Slogan "Arbeitsplätze statt Öko-Terror!" in den Wahlkampf.
Das historische Archiv der FDP St.Gallen bietet allerdings nicht nur einen wort- und bildreichen Einblick in die Geschichte des st.gallischen Freisinns seit dem späten 19. Jahrhundert, sondern auch in die Tätigkeit der diversen Organisationen, die mit der Partei über die Jahre hinweg verflochten waren oder teilweise immer noch sind, darunter die erste freisinnige Frauengruppe der Schweiz, die Jungliberale Bewegung und die Jungfreisinnigen oder der freisinnige Presseverein.
Egal ob Sie sich also für die Brennpunkte der Weltgeschichte interessieren, sich fragen, was eine Motorrad-Gang am FDP-Stammtisch verloren hat, erfahren möchten, weshalb der Ausbau der Energieversorgung auch in den 1950ern bereits kontrovers und die FDP St.Gallen mittendrin war oder Ihnen einfach mal nach Feiern zumute ist – im Archiv der FDP St.Gallen wartet so manche spannende Geschichte darauf, entdeckt zu werden!
Juni 2024