"Fräulein Weber" und die freisinnige Frauengruppe St.Gallen

Pionierinnen auf dem steinigen Weg zum Frauenstimmrecht

Mit der Annahme des eidgenössischen Frauenstimmrechts in der Volksabstimmung vom 7. Februar 1971 fand (zumindest auf Bundesebene) das jahrzehntelange Ringen um die staatsbürgerliche Gleichstellung der Schweizer Frauen seinen erfolgreichen Abschluss. Auf die politischen Parteien wartete indessen ein ganz neues Stück Arbeit: Auf einen Schlag wollte ein ganzes Segment potentieller Neuwählerinnen in die politische Arbeit eingebunden und zuvorderst für die anstehenden Nationalratswahlen vom 31. Oktober 1971 mobilisiert und umworben werden.

Gesagt, getan, wandte sich die FDP Schweiz im Oktober 1971 mit einem Rundbrief an die "Liebe Wählerin". Unter dem eigens kreierten Motto "Die Freisinnigen haben die Frauen gern" sollten die Adressatinnen nicht nur für die Inhalte freisinniger Politik begeistert, sondern davon überzeugt werden, dass die FDP schon immer eine treibende Kraft hinter der politischen Gleichberechtigung der Frauen gewesen sei: "Wir traten schon für die politische Gleichberechtigung der Frau ein, als das noch nicht selbstverständlich war. Seit Jahren arbeiteten Frauen in unseren Reihen als Gleichberechtigte aktiv mit, bevor der Staat dazu seinen Segen gab."

Dass sich jenseits politischer Slogans oftmals kompliziertere (und spannendere!) Geschichten verbergen, zeigt das Beispiel des Kantons St.Gallen. So wurde zwar hier auch noch 1971 die Einführung des Frauenstimmrechts von 53.5% der abstimmenden Männer abgelehnt – zugleich war hier bereits im Jahr 1926 die erste freisinnige Frauengruppe der Schweiz gegründet worden. An dieser Pionierorganisation und deren ersten, langjährigen Präsidentin (1926-1957) Ida Weber (1888-1977) lässt sich der oftmals widersprüchliche Werdegang der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gleichstellung der Frauen in der Schweiz anschaulich untersuchen.

Als die gestandene Inhaberin eines Modegeschäfts an der Turmgasse und seit Jahrzehnten politisch aktive Ida Weber nach 31 Jahren ihr Präsidentinnenamt abgab, nahm Vorstandsfrau Helen Fuchs dies zum Anlass, in einem schriftlichen Rückblick (W 353/18.1.03) die vergangenen dreissig Jahre der freisinnigen Frauengruppe unter dem Präsidium von "Fräulein Ida Weber" nochmals Revue passieren zu lassen: "Es scheint uns dies der Moment zu sein, wieder einmal Rückschau zu halten auf die Tätigkeit unserer Frauengruppe, auf Erstrebtes und Erreichtes und dadurch die so uneigennützige, von nimmermüdem Arbeitsgeist und zäher Beharrlichkeit getragene Arbeit unserer scheidenden Präsidentin noch einmal vor unsern Augen aufleben zu lassen."

Obwohl sich Ida Weber selbst im Rückblick als "überzeugte Verfechterin des Frauenstimmrechtsgedankens schon seit meiner Schulzeit" bezeichnete und auch in entsprechenden Vereinen aktiv war, stellte die Einführung des Frauenstimmrechts für die freisinnige Frauengruppe zunächst ein Ziel unter mehreren dar. Zweck der Frauengruppe aus Sicht der Gründerinnen sei gewesen: "Verfolgung der politischen Tagesfragen, Aufklärung der Frauen freisinniger Weltanschauung durch geeignete Referate, Zusammenarbeit mit der Partei." Die von Helen Fuchs aufgeführte Palette an "sozialen, wirtschaftlichen und gesetzgeberischen Problemen", denen sich die freisinnige Frauengruppe widmete, ist breit und führt (vielleicht nicht ganz zufällig) das Stimm- und Wahlrecht für Frauen sogar erst ganz zuletzt auf: "Altersversicherung, Gastwirtschaftswesen, Wohnverhältnisse, Erziehungsprobleme, Kostkinderwesen, Beschaffung von Heimarbeit für Arbeitslose, Besserung des Kleinrentnerstandes, Preis- und Marktprobleme, Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechtes […]".

Die rege Tätigkeit der FPD-Frauengruppe erschöpfte sich nicht in der Veranstaltung von Referaten zu politischen, kulturellen und sozialen Themen, Ausflügen, Besichtigungen oder den alljährlichen "besinnlichen Adventsabenden" – mit Postulaten und Eingaben an Partei und Behörden sollten nicht nur "freisinnigen Frauen wünschbar scheinende Lösungen" erreicht, sondern die Angeschriebenen auch von der Notwendigkeit der Mitarbeit von Frauen in Schul- und Fürsorgebehörden und nicht zuletzt in den Gremien der freisinnigen Partei überzeugt werden. In ihrem Bericht zog Helen Fuchs ein vorsichtig positives Fazit: So seien im Laufe der 40er und 50er nicht nur die kantonalen Parteifachausschüsse, sondern auch das Waisenamt und die Jugendgerichte für freisinnige Frauen geöffnet worden. Lobend hervorgehoben wurden ausserdem die teilweise finanzielle und administrative Unterstützung durch die Partei sowie die Tatsache, dass "recht bald eine 2-er Delegation der Frauengruppe zu den Sitzungen des städtischen Parteivorstandes zugelassen" sei.

Dennoch: "Leider fehlt es uns bis heute auch immer noch an tatkräftiger und aufrichtiger Unterstützung durch unsere Parteigenossen bei der nun trotz allem ins akute Stadium getretenen Frage der Verleihung der bürgerlichen Rechte." Dass Fuchs' Einschätzung in dieser Hinsicht nicht einfach pessimistisch, sondern durchaus realistisch war, zeigt die Tatsache, dass die FDP St.Gallen für die erste Abstimmung über die Einführung des eidgenössischen Frauenstimmrechts vom 1. Februar 1959 mit 126 zu 59 Stimmen die Nein-Parole ausgab. (Die Landespartei hatte hingegen Stimmfreigabe beschlossen.) Die ablehnenden Delegierten folgten dabei den Ausführungen des Uzwiler Kantonsrats und freisinnigen Fraktionschefs Hans Zogg (1905-1983), der bei einer Annahme u.a. Gefahren für Familie und Erziehung beschwor, da "Mann und Frau jetzt schon zuviel von der Familie abwesend" seien. Ausserdem sei die Einführung des Frauenstimmrechts, das eine Mehrheit der Frauen zudem gar nicht wolle, in Abstimmungen auf Kantons- und Gemeindeebene wiederholt abgelehnt worden, weshalb eine gewissermassen vorgezogene Einführung auf Bundesebene aus föderalistischen Gründen abzulehnen sei (Bericht im St.Galler Tagblatt vom 19. Januar 1959).

Mit dem Argument, dass eine Mehrheit der Schweizerinnen das Stimmrecht gar nicht wolle, waren direkt die Politisierungs- und Bildungsbemühungen der freisinnigen Frauengruppe angesprochen. Deren neue Präsidentin Heidi Seiler (1914-1982) argumentierte an der Delegiertenversammlung vergeblich, "dass die Frau, die mit Ausnahme der politischen Rechte dem Mann heute gleichgestellt ist, auch verpflichtet werden sollte, mit dem Stimm- und Wahlzettel zum Wohle unserer Heimat mitzuarbeiten." Heidi Seilers Strategie bestand darin, das Frauenstimmrecht nicht zuvorderst als Ausbau von Rechten, sondern als durch Dienst an der Nation verdiente Übertragung staatsbürgerlicher Pflichten zu verstehen. Dies deckte sich auch mit der Vision der bürgerlichen Ida Weber, die sich während des Zweiten Weltkrieges u.a. im Aufbau des Frauenhilfsdienstes (FHD) in der Stadt St.Gallen engagiert hatte (nicht ganz zufällig lud die FDP-Frauengruppe 1965 dessen langjährige Leiterin Andrée Weitzel zu einem Vortrag ein).

Obwohl Heidi Seilers Argumente an der Delegiertenversammlung vom Januar 1959 nicht verfingen (und St.Gallen bei der folgenden Abstimmung zu den deutlich ablehnenden Kantonen zählte), scheint es dem damaligen Kantonalpräsidenten der FDP (und nachmaligen Stadtammann von St.Gallen), Alfred Hummler (1915-2010), mit diesem Ergebnis nicht ganz wohl gewesen zu sein. Als sich der Vorstand der Ortspartei Ebnat nach der Abstimmung beim Kantonalvorstand über das aus seiner Sicht mangelnde Engagement beim Kampf gegen die Abstimmungsvorlage beklagte, schloss besagter Alfred Hummler seine Replik mit der Ermahnung: "Nachdem ich soeben von einem politischen Englandaufenthalt zurückgekehrt bin, möchte ich Ihnen vorschlagen, dass Sie entsprechend der Sitte im britischen Unterhaus an der nächsten Delegiertenversammlung eine Tadelsmotion einbringen. Ich möchte Ihnen nur sehr zu bedenken geben, dass die Freisinnig-demokratische Partei in zehn Jahren wahrscheinlich recht froh sein wird, wenn man ihr die heutige Gegnerschaft gegen das Frauenstimmrecht nicht mehr allzu deutlich nachweisen kann." (W 353/05.2) Auch wenn Hummlers Schätzung von zehn Jahren noch ein klein wenig zu tief angesetzt war, sollte sich die Einschätzung des FDP-Präsidenten bewahrheiten.

Ida Weber selbst konnte die Einführung des Frauenstimmrechts 1971 noch miterleben. Was die Gründerin der FDP-Frauengruppe wohl als ihr persönliches Verdienst an diesem Erfolg sah, bringt ein Brief zum Ausdruck, mit dem sich das inzwischen hochbetagte "Fräulein Weber" 1968 für die Glückwünsche der städtischen Parteileitung zu ihrem 80. Geburtstag bedankte.

Quellen

St.Galler Tagblatt: Ausgaben vom 23. Mai 1932 und 19. Januar 1959

W 353: Historisches Archiv der FDP des Kantons St.Gallen

W 353/04.1.2-3.3 (Korrespondenz des Parteisekretariates: Schriftenversand, Verdankungen, Vermittlungsdienste)

W 353/05.2 (Präsidialkorrespondenz)

W 353/18.1 (Frauengruppe Stadt und Bezirk St.Gallen)

W 353/18.1.01 (Organisatorische Grundlagen und Selbstporträt)

W 353/18.1.02 (Diverse ältere Akten)

W 353/18.1.03 (Tätigkeitsberichte, Rückblicke)

W 353/18.1.08 (Diverse Veranstaltungen)

W 353/18.1.10 (Schweizerische Vereinigung freisinniger Frauengruppen und andere Organisationen)

Literatur

Widmer, Marina / Witzig, Heidi (Hg.): Blütenweiss bis rabenschwarz. St.Galler Frauen - 200 Porträts, Zürich 2003 ("Freisinnige Suffragette", Beitrag über Ida Weber von Marie-Thérèse Lamari, S. 403f. u.a. basierend auf Archivalien des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz in St.Gallen).

"Nur staubiges Papier? Nicht, wenn man auch zwischen den Zeilen eines Protokolls liest!" – Archivsplitter des Staatsarchivs St.Gallen über den Aufruf zur "nationalen Frauenspende" während des Ersten Weltkriegs (18. Mai 2020)

Porträt über Helen Fuchs auf der Website des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz (Sektion "Portraits")

Peter Roth, Staatsarchiv St.Gallen

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