Von Systemliberalen, geifernden Staatsfeinden und Drachentötern

Wie die Demokratische und Arbeiterpartei St.Gallen den Freisinn herausforderte

Panaschieren, Kumulieren, Listen und Parteien – Begriffe, die bei heutigen Leserinnen und Lesern minimal ein Gähnen und maximal eine ungute Vorahnung der bei den nächsten Parlamentswahlen erneut anstehenden Papierflut auslösen. Vor etwas mehr als hundert Jahren jedoch standen diese Konzepte im Zentrum heftiger politischer Auseinandersetzungen, die teilweise in geradezu apokalyptischen Tönen geführt wurden. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist etwa eine Gratisbeilage, mit der das liberale St.Galler Tagblatt seine Leserschaft auf die insgesamt zweite Abstimmung über die Einführung des Proporzes bei Kantonsratswahlen (1901) einstimmte. Die Botschaft war klar: Hier geht es nicht nur um ein sprachliches Ungetüm, sondern ein regelrechtes Monstrum, das den bürgerlichen Staat mit Haut und Haaren zu verschlingen droht.

1901: Gratis-Beilage des St.Galler Tagblatts zur Abstimmung über die Einführung der Proporzwahl des Kantonsrates

Uns interessiert hier allerdings nicht so sehr das vielköpfige Proporz-Monster (das wohlgemerkt ausser heisser Luft auch nicht viel Zustande zubringen scheint … vielleicht ein Seitenhieb des Karikaturisten?), sondern die auf beiden Seiten des Bildes dargestellten Personen. Während sich auf der Sonnenseite der als «Gallia» personifizierte Kanton und das ihm treu und heroisch beistehende «Winner-takes-all»-Prinzip des Mehrheitswahlrechts für den Ansturm wappnen, wird der Proporz von zwei Herren aus seiner dunklen Höhle getrieben, die mit ihren teilweise bereits angegrauten Haaren, Zwickern und Anzügen in starkem Kontrast zu den heroischen Figuren der Gegenseite stehen. Während im Hintergrund der katholisch-konservative (später CVP bzw. heute Die Mitte) Kantonsparlamentarier und langjährige Chefredaktor der «Ostschweiz», Georg Baumberger, die Zügel in der Hand hält, tritt der demokratische National- und Regierungsrat Theodor Curti als Dompteur auf.

Um 1900: Porträt von Theodor Curti (1848-1914), National- und Regierungsrat sowie Mitbegründer der HSG

Wie bitte? Demokratisch? Was soll das denn sein? Werden Sie sich vielleicht fragen … Es geht noch besser – die volle Bezeichnung lautete «Demokratische und Arbeiterpartei des Kantons St.Gallen» – und nein, Neumitglied können Sie seit mittlerweile fast 90 Jahren leider nicht mehr werden.

Nun ist es zunächst einmal nichts Ungewöhnliches, dass sich in einem Archiv auch Unterlagen nicht mehr existierender Parteien befinden – auch wenn Veränderungen im Parteiensystem der Schweiz eher eine Seltenheit sind – und sich längst nicht jede Neugründung auf dem «politischen Markt» als eigenständige Akteurin zu behaupten vermag. Ein paar wenige, mittlerweile untergegangene, Organisationen wie die Auto-Partei, der Landesring der Unabhängigen oder die Nationale Aktion haben wenigstens aufgrund ihrer «klingenden» Namen oder einprägsamer Galionsfiguren wie Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler oder James Schwarzenbach Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen (ganz abgesehen von eher «handfesten» Hinterlassenschaften wie Mitgliederausweisen, Türschildern und Eiskratzern, die über die Jahre ihren Weg ins Staatsarchiv gefunden haben).

1939, 1991: «Parteiärchologische» Funde im Staatsarchiv St.Gallen

Im Gegensatz dazu dürfte die Demokratische und Arbeiterpartei selbst bei einem historisch interessiertem Publikum heutzutage kaum mehr starke Assoziationen oder gar politische Leidenschaften wecken. Dabei lohnt es sich durchaus, einen näheren Blick auf diese politische Organisation zu werfen, die etwa bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein teils gewichtiges Wort mitredete bei der Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft in der 1848 gegründeten modernen Schweiz gestalten sollte. Viele der von den Demokraten und ihren Verbündeten erhobenen Forderungen, darunter ein sozial- und wirtschaftspolitisch tätiger Staat (Subventionen, Monopole, Arbeiterschutzgesetze) und nicht zuletzt der im Parteinamen angedeutete Ausbau der direktdemokratischen Volksrechte (Initiative/Referendum, Volkswahl der Regierung, Bestellung der kantonalen und eidgenössischen Parlamente gemäss Proporzwahlrecht) sind heutzutage weitgehend verwirklicht (wenn auch nicht immer unumstritten).

Im Kanton St.Gallen kam es 1888 zum organisatorischen Zusammenschluss der Demokraten in der sogenannten «Demokratischen und Arbeiterpartei». Der konkrete Anlass dafür waren die kontroversen Diskussionen um eine Totalrevision der Kantonsverfassung. Bei den Demokraten handelte es sich um denjenigen Teil der Freisinnigen, der eine grösse Beteilung des Volkes an der Politik und ein stärkeres Engagement des Staates in der Sozialpolitik forderte.

1920: Ausschnitt aus einer Werbebroschüre der Demokratischen und Arbeiterpartei

Auch wenn die Demokraten zur Erreichung ihrer Ziele oftmals auf die Zusammenarbeit mit den linken und konservativen Gegnern des Freisinns (dem aus demokratischer Sicht sogenannten «Systemliberalismus»; so etwa im St.Galler Stadt-Anzeiger von 1911) angewiesen waren, legte die Demokratische und Arbeiterpartei grossen Wert auf die Feststellung, dass sie sich am Ende des Tages in zentralen Punkten von ihren «Koalitionspartnern» unterscheide. So grenzten sich die Demokraten etwa demonstrativ von der aus ihrer Sicht unschweizerischen revolutionär-utopischen Weltanschauung der Sozialisten oder der Vermengung von Staat und Kirche bei den Konservativen ab. Die den Demokraten eigentlich durchaus nahe stehenden Liberalen hingegen wurden als «Partei des Besitzes» kritisiert, die immer wieder direktdemokratische und sozialpolitische Reformen blockiere.

Ein anschauliches Beispiel für diesen rhetorischen Spagat ist etwa der oben abgebildete Ausschnitt aus einer Werbebroschüre der Demokratischen und Arbeiterpartei aus dem Jahr 1920. Die kapitalismuskritischen Parolen und die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit werden mit einer klaren Ablehnung des «bolschewistischen Fieber-Traums» verknüpft. Trotz sozialpolitischen Engagements stehe man, so betonten die Demokraten, auf «nationalem» Boden. An anderer Stelle wurden zwar die internationalen Friedensbemühungen des Völkerbundes begrüsst – allfällige Abrüstungsbemühungen sollten allerdings stets die Landesinteressen im Blick behalten.

Aus liberaler Sicht freilich machte es wenig Unterschied, ob die Demokraten etwa für sich in Anspruch nahmen, patriotische Sozialisten zu sein oder aus einer lediglich teilweise ähnlichen Interessenlage heraus mit den Katholisch-Konservativen zusammenzuarbeiten. Durch ihren Einsatz für die Reform des Wahlsystems hatten sich die Demokraten klar zu Gehilfen der machtpolitischen Ansprüche von Kräften gemacht, die sich den Interessen einer Konfession verschrieben hatten oder deren politische Haupttätigkeit darin bestand, die «staatlichen Institutionen [zu] begeifern».

1911: Titelseite der «St.Galler Fasching-Zeitung» mit Karikatur zur Annahme der proportionalen Wahl des Kantonsrates in der Volksabstimmung vom 5. Februar 1911

In eine ähnliche Kerbe schlug eine Karikatur der «St.Galler Fasching-Zeitung» zur Annahme des kantonalen Proporzes in der Volksabstimmung vom 6. Februar 1911: Eine geradezu unheilige Allianz stösst den Majorz und den dank ihm dominierenden Freisinn vom Thron und ersetzt ihn durch die katholische Kirche, den alten Erzfeind der Liberalen. Die politischen Kontrahenten werden markiert durch ihre jeweilige Parteipresse (so links vorne der demokratische St.Galler Stadt-Anzeiger) und ihre Kleidung. Auf der linken Seite des Thrones haben sich ein Landbewohner (?), ein Sozialist, ein Geistlicher, eine Nonne und ein Demokrat (?) eingefunden, die sich hinter der unter dem Kreuz stehenden Forderung «Es lebe der Proporz» versammelt haben. In der Bildmitte arbeiten die Parteizeitungen der Demokraten und Sozialdemokraten im Bündnis mit dem Sarganserländer daran, den Proporz mit allen Mitteln auf den Thron zu hieven. Der Kanton St.Gallen, symbolisiert durch den Bär mit dem Rutenbündel, kann nur noch hilflos zusehen, wie der bereits gemütlich dasitzende Mönch dem Proporz die Hand reicht. Während der Majorz vom Thron stürzt, machen sich die unterlegenen Liberalen mit dem St.Galler Tagblatt in der Tasche daran, am Thron zu sägen. Und natürlich darf auch der Hinweis auf die «Allianz» nicht fehlen, in deren Zuber Abstimmungspropaganda, die katholisch-konservative «Ostschweiz» und der demokratische St.Galler Stadt-Anzeiger durcheinandergemischt werden.

1936: Gegen die Spaltung, für den bürgerlichen Staat: Flugblatt der FDP zu den Kantonsratswahlen

Trotz politischer Erfolge und engagierter Mandatsträger (siehe unten) führte die allmähliche Konsolidierung des Parteiensystems im Kanton St.Gallen seit 1900 zu einem fortschreitenden Bedeutungsverlust der Demokratischen Partei. Nicht nur waren deren zentrale demokratiepolitische Forderungen mittlerweile weitgehend erfüllt (mit Ausnahme der erst 1967 eingeführten Volkswahl der Ständeräte) – ihr erwuchsen mit der 1905 gegründeten SP St.Gallen und dem 1912 endgültig als eigentliche Partei organisierten Freisinn parteipolitische Konkurrentinnen, die sowohl grosse Teile der Arbeiterschaft an sich binden als auch die Position der zwischen den Polen stehenden, bürgerlichen Volkspartei besetzen konnten. Die Nichtwiederwahl des letzten verbliebenen Kantonsrats (und Parteipräsidenten) der Demokratischen Partei 1936 bedeutete schliesslich das endgültige Aus für die St.Galler Kantonalpartei. Bezeichnend für das Scheitern der Demokraten als Arbeiterpartei ist die Tatsache, dass der 1887 unter prominenter Mithilfe von St.Galler Demokraten (siehe unten) aus der Taufe gehobene Neue Schweizerische Arbeiterbund bereits 1920 aufgrund ideologischer Differenzen endgültig aufgelöst wurde.

Gesamtschweizerisch betrachtet hatten eigenständige Demokratische Parteien lediglich in den Kantonen Glarus und Graubünden auch über den Zweiten Weltkrieg hinaus einen gewissen Einfluss, wobei auch bereits altbekannte Forderungen erhoben wurden – so etwa der Ruf nach «sozialer Gerechtigkeit». Die Lancierung einer Überfremdungsinitiative im Jahr 1964 konnte den allmählichen Bedeutungsverlust der Demokraten nicht aufhalten. 1971 lösten sich schliesslich auch die letzten Kantonalparteien auf: Im Kanton Zürich schlossen sich die Demokraten der FDP an, während die Sektionen in Glarus und Graubünden durch ihre Fusion mit der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) zu Keimzellen der Schweizerischen Volkspartei (SVP) wurden.

«Erinnernswert» ist die Demokratische Partei allerdings nicht bloss wegen ihrer erfolgreich verwirklichten, bis heute nachwirkenden Projekte. Als politische Heimat einer diversen Koalition von «rechten» (bzw. im zeitgenössischen Sprachgebrauch «national gesinnten») Sozialdemokraten und «linken» Freisinnigen zog die Demokratische Partei immer wieder Exponenten an, die sich nur schwer in die heute geläufigen politischen Lager einordnen lassen. So war etwa der in Rapperswil geborene Journalist, Publizist und Schriftsteller Theodor Curti als Parlamentarier in Zürich und St.Gallen (wo er 1894-1902 als Regierungsrat amtierte und u.a. die HSG, die heutige Universität St.Gallen mitbegründete) sowie als Redaktor bei der St.Galler und der Frankfurter Zeitung nicht nur in politisch-geografischer Hinsicht ein Grenzgänger; als Mitbegründer des sogenannten Neuen Schweizerischen Arbeiterbundes 1887 etwa kooperierte er nicht nur mit seinem sozialistischen Parteikollegen Heinrich Scherrer (ab 1905 Mitglied der SP des Kantons St.Gallen), sondern auch mit dem Sozialdemokraten Herman Greulich und dem einflussreichen katholisch-sozialen Politiker Caspar Decurtins.

Und während Heinrich Scherrer (1882-1890 Präsident des Schweizerischen Grütlivereins) nach seinem Parteiübertritt 1905 voll in seiner Rolle als SP-Politiker aufging (so als erster sozialdemokratischer Regierungsrat des Kantons St.Gallen und später als erster SP-Ständerat überhaupt), sprach sich sein Mit-Grütlianer (und letzte demokratische Regierungsrat) Otto Weber gegen die 1901 vollzogene Fusion des Grütlivereins mit der SP aus und blieb im Nationalrat Mitglied der sozialpolitischen Gruppe, d.h. derjenigen Fraktion, der bis 1911 neben den sozialdemokratischen Nationalräten auch die Ostschweizer Vertreter der Demokratischen Partei angehörten.

Um 1920: Der letzte demokratische Regierungsrat Otto Weber (1872-1962) als Angehöriger der Abstinentenverbindung Humanitas Sangallensis an der Kantonsschule St.Gallen

Peter Roth

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