«Deine Dich liebende Albertina»
Die ältesten Fahndungsbücher der Kantonspolizei
«Zur Erinnerung an Deine Dich liebende Albertina»: Die Notiz auf der Rückseite des Fotos macht neugierig. Wie kommt das Bild der eleganten, jungen Frau mit Hut, Handschuhen und Schirm ins Polizeialbum? Hat sie etwas verbrochen? Von Polizistenhand wurde der Name ergänzt: «Roth Albertine v. Kessweil». Mit Hilfe dieser rudimentären Angaben findet man sie im Jahrgang 1878 des Schweizerischen Polizeianzeigers zur Fahndung ausgeschrieben:
Albertine Roth wurde 1861 geboren, war also erst 17 Jahre alt und hatte als Kellnerin gearbeitet. Gesucht wurde sie als Komplizin des Jose André, «Commis» (kaufmännischer Angestellter) von Aachen. Von ihm gibt es kein Foto in den Polizeialben, aber sein Signalement liest sich folgendermassen: «21 Jahre alt, 156 Cm. hoch, schmächtig; Haare und Brauen schwarz, Augen dunkel, Schnurrbart braun, kurze Nase breit, Kinn schmal; kurzsichtig, goldene Brille». André wurde beklagt, ihm von seinem Arbeitgeber anvertraute Tuchwaren in Genf zu einem Schleuderpreis verhökert zu haben. Der Warenwert betrug nach Aussage des Geschädigten 9000 Fr. – umgerechnet auf heutige Verhältnisse wären das rund 100’000 Fr. André verkaufte sie für lediglich 1250 Fr. – erhielt dafür also immer noch die stattliche Summe von heute 14'000 Fr. auf die Hand. Damit flüchtete der junge Mann nach Algerien, wo man ihn nach einem internationalen Fahndungsbefehl dinghaft machen konnte.
Albertine Roth aus Kesswil ist nicht weiter aktenkundig, ihr Bild im St.Galler Fahndungsbuch ist die einzig greifbare Spur zu ihrer Biografie. Ob André seine Freundin, die «Zürcherdialekt und französisch» sprach, nur wegen ihrer Sprachkenntnisse und ihrer eleganten Erscheinung als Komplizin benutzt hatte? Oder erhoffte sich das Paar, mit diesem Startkapital in der Fremde eine gemeinsame Zukunft beginnen zu können?
Die Fotoalben des St.Galler Landjägerkorps zeigen das breite Spektrum polizeilicher Recherchearbeit: Neben flüchtigen Dieben und Einbrechern suchten die Landjäger Betrüger und Fälscher. Sie ermittelten in Fällen von Unterschlagung oder Brandstiftung, klärten Identitäten und suchten Vermisste. In den Fokus der Gesetzeshüter gerieten Männer und Frauen mit unterschiedlichsten Lebenshintergründen. Porträts von Fabrikarbeiterinnen, Mägden und Kellnerinnen finden sich ebenso wie solche von Metzgern, Schmieden und Stickern. Gut situierte Geschäftsreisende, Buchhalter und Bijoutiers sind neben Seiltänzern, Handharmonikaspielern und dem Führer eines blinden Lumpensammlers abgebildet. Ein Auswanderer, ein Eisenhobler und ein Geschirrhändler bereichern die bunte Palette der Dargestellten und ihrer Tätigkeiten. Auch 46 Anarchisten, in der Mitte der 1880er und Anfang 1890er Jahre schweizweit von den politischen Behörden scharf beobachtet, sind bildlich erfasst. Ein Findelkind auf dem Schoss einer Ordensfrau, ein Schüler aus Lausanne, der nicht ins St.Galler Internat zurückgekehrt war und «Vaganten», einer davon mit einem rot und blau tätowierten Herz auf dem rechten Vorderarm, runden die Palette der Abgebildeten ab. Lauter Geschichten, die es zu entdecken gilt!
Zusätzliche Quellen zur Geschichte von Albertine Roth:
Allgemeiner Polizeianzeiger der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1878, Nr. 82, 12.06.1878, S. 325
Protokoll des Bundesrates, Präsidialverfügungen vom 06.08.1878 (Nr. 4201) und vom 16.10.1878 (Nr. 5491)
Juni 2025