Vor hundert Jahren wurde der berühmteste Bürger von Untereggen ermordet
Krieg bestimmt das Jahr 2022. Viele Menschen aus der Ukraine fliehen nach Westen. Zu einem sehr grossen Teil finden sie in Polen Schutz und beeindruckende Zuwendung. Im 19. Jahrhundert waren zahlreiche Polen vor den russischen Machthabern auf der Flucht. Manche fanden in der Schweiz Aufnahme. Infolge des Januaraufstands im Jahr 1863 spielte der Kanton St.Gallen als rettender Hafen eine wichtige Rolle. Unser vordem eher unbekanntes Land rückte den Polinnen und Polen zusehends ins kollektive Bewusstsein. Einer, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Schweiz kam, war Gabriel Narutowicz. Allerdings befand er sich nicht auf der Flucht. Sorgen um die Gesundheit führten ihn hierher. Die politischen Umstände waren aber dafür verantwortlich, dass er jahrelang nicht mehr heimkehren konnte.
Geboren am 17. März 1865 in Telsche, entstammte Gabriel Narutowicz dem polnischen Landadel. Heute gehört die Stadt zu Litauen und heisst Telšiai. Weite Gebiete des im späten 18. Jahrhunderts aufgeteilten polnischen Staats wurden nun von Russland beherrscht, so Telsche. Das Zarenreich betrieb eine Politik unterdrückerischer Russifizierung und war dementsprechend bei der polnischen Bevölkerung verhasst. Mehr Glück hatten jenen Gebieten, die den weit toleranteren österreichischen Habsburgern zugeschlagen worden waren.
Narutowicz besuchte Schulen im Baltikum und reiste dann zu Studien nach St.Petersburg, wo eine ansehnliche polnische Diaspora lebte. Der gesundheitlich angeschlagenen junge Mann vertrug die klimatischen Verhältnisse der Zarenstadt schlecht. Ein Kuraufenthalt in der Schweiz sollte helfen. Die Alpenrepublik wurde ihm zum Schicksal und zur zweiten Heimat. Er blieb über 30 Jahre, studierte nach seiner Kur an der ETH in Zürich und war anschliessend als Wasserbauingenieur sehr erfolgreich tätig. Die Wasserkraft war ein Schlüsselfaktor des industriellen Fortschritts der ansonsten rohstoffarmen Schweiz. Der Energiehunger wuchs in jenen Jahren stetig. Angesichts der aktuellen Diskussionen über die Folgen von Stromknappheit werden uns solche Zusammenhänge erneut deutlich. Narutowicz entwickelte sich jedenfalls zu einem wichtigen Mitgestalter dieses Fortschritts. Zurecht gebührt ihm ein Platz unter den technischen Pionieren unseres Landes.
Das aufstrebende St.Gallen wurde für rund 17 Jahre Narutowicz' Lebensmittelpunkt. Hier gründete er auch eine Familie. Häufig zog er in der Stadt um. Nach seiner Eheschliessung lebte er längere Zeit an der Rosenbergstrasse 58, ein stattliches Gebäude, das erfreulicherweise heute noch steht. Später ging es weiter den Rosenberg hinauf. Seine Wohnsituation markiert den wirtschaftlichen Aufstieg. Als Glücksfall erwies sich seine Tätigkeit bei Louis Kürsteiner, einem Wasserbauer von Weltruf, der zuvor beim Panamakanal mitgewirkt hatte. Die beiden Männer verband eine fruchtbare Zusammenarbeit und eine persönliche Freundschaft. Von 1908 bis 1919 wirkte Narutowicz schliesslich als Professor für Wasserbau an der ETH. Dementsprechend verliess er St.Gallen. Zusätzlich zur Professur eröffnete er ein eigenes Ingenieurbüro in Zürich. Das berufliche «Doppelleben» war mit grossen Arbeitsbelastungen verbunden.
Narutowicz liebte die Schweiz und ihre Natur. Und das, obwohl er als junger Migrant wohl auch fremdenfeindliche Demütigungen hatte erfahren müssen. Das Schweizerdeutsch soll er sehr gut beherrscht haben. 1895 wurde er in Untereggen heimatberechtigt und damit St.Galler Kantonsbürger. Die Einkaufssumme war für damalige Verhältnisse sehr stattlich (1000 Franken). Später wurde er auch in der Stadt Zürich eingebürgert – zu weit günstigeren finanziellen Konditionen.
Während seiner Schweizer Jahre arbeitete der nachmalige Politiker an Wasserbauprojekten im In- und Ausland. Er war dementsprechend auf Reisen. Als seine hervorragendste Leistung gilt das Kraftwerk Mühleberg an der Aare bei Bern. Dieses Vorhaben war zugleich sein letztes hierzulande. Während des Ersten Weltkriegs begann Narutowicz sich intensiver mit der Politik zu beschäftigen. Wie bei vielen seiner Landsleute war ihm die Gründung eines unabhängigen polnischen Staates Herzensangelegenheit. Der Ausgang des Kriegs verschaffte der Nation die Chance, diesen Traum zu realisieren. Im Jahr 1920 kehrte Narutowicz nach Polen zurück. Seine polnische Ehefrau, Ewa, war erst 45jährige kurz zuvor verstorben. Der dritte, allerdings sehr kurze Abschnitt seines Lebens vollzog sich an der Weichsel.
Die charakterlichen und fachlichen Eigenschaften machten Narutowicz zum idealen Kandidaten für ein Ministeramt in der jungen polnischen Republik. Das Land wies enormen infrastrukturellen Nachholbedarf auf. Gesellschaft und Politik waren stark polarisiert. Ein Mann vom Format Narutowicz' schien als oberster Verantwortlicher für die sogenannten Öffentlichen Aufgaben am richtigen Platz. Später wechselte er ins Aussenministerium. Am 9. Dezember 1920 wurde er schliesslich ins höchste Staatsamt gewählt. Er war der erste demokratisch gewählte Präsident einer tausendjährigen Nation. Bereits wenige Tage später fiel er einem nationalistisch motivierten Attentat zum Opfer. Seine letzte Ruhestätte fand er an prominenter Stelle in der Johanneskathedrale im Herzen von Warschau.
In der Schweiz geriet Gabriel Narutowicz, den seine Studenten liebevoll «Naruti» nannten, eher in Vergessenheit. Immerhin erinnert u.a. eine Gedenktafel im ETH-Hauptgebäude an ihn. Seinen polnischen Landsleuten hingegen ist er bis heute präsent. Viele Städte schmücken sich mit einer Strasse, die den Namen dieses St.Gallers trägt. Allerdings hinterliess Narutowicz auch in der Ostschweiz bleibende und markante Spuren: Etwa bezüglich der Rheinregulierung, der Steinachkorrektion in der Stadt St.Gallen oder, besonders sichtbar, beim Kraftwerks Kubel.
Der schriftliche Nachlass von Narutowicz befindet sich im Archiv der ETH Zürich. Im Staatsarchiv des Kantons St.Gallen ist Narutowicz ebenfalls mit ein paar Spuren präsent geblieben. So zeigt eine Fotografie von 1899 den nachmaligen Staatspräsidenten als stolzen Ingenieur beim Wasserkraftwerk Kubel. Das Bild wurde erst vor wenigen Jahren in den entsprechenden Akten entdeckt.
Literatur
Marek Andrzejewski: Gabriel Narutowicz. Wasserbauer, Hochschullehrer und Politiker, Zürich 2006.
Der Beitrag erschien am 9. Dezember 2022 im St.Galler Tagblatt:
Stefan Gemperli, Staatsarchivar