Jugendheim Platanenhof
Titel
Jugendheim Platanenhof
Stufe
Fonds
Entstehungszeitraum
1890-2011
Existenzzeitraum
1894-
Synonyme
Besserungsanstalt für Knaben, Erziehungsanstalt für Knaben, St.Gallisches Erziehungsheim für Jugendliche, Erziehungsheim Platanenhof
Abkürzungen
"Planti"
Geographische Angaben (Adresse)
9242 Oberuzwil
Rechtsform
Abteilung
Rechtsgrundlagen
Der an strafrechtliche Vergehen anschliessende Strafvollzug bei Jugendlichen ist in der Schweiz – im Gegensatz zum Strafvollzug bei Erwachsenen – weniger auf Vergeltung ausgerichtet, als vielmehr pädagogisch orientiert. So stehen der Schutz, die Erziehung und die Entwicklung der Persönlichkeit eines Jugendlichen im Zentrum. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Jugendliche mitten in der Persönlichkeitsentwicklung stehen und in der Regel aus anderen Gründen straffällig werden als Erwachsene. In analoger Weise ist der zivilrechtliche Massnahmenvollzug, der z.B. bei einer schwierigen Familiensituation oder bei Suchtproblemen zum Tragen kommt, bei Jugendlichen anders geregelt als bei Erwachsenen. Jugendliche werden daher nicht in herkömmlichen Institutionen (z.B. Gefängnisse) untergebracht, sondern in speziell auf ihre Bedürfnisse ausgerichteten Institutionen wie dem Jugendheim Platanenhof.
Die Einweisung eines Jugendlichen in das Jugendheim Platanenhof kann somit durch straf- oder zivilrechtliche Behörden erfolgen. Dazu zählt einerseits die Jugendanwaltschaft, die sich auf das Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 20. Juni 2003 abstützt (SR 311.1). Andererseits können die Vormundschaftsbehörden Jugendliche auf dem zivilrechtlichen Weg in das Jugendheim einweisen. Die gesetzliche Grundlage bildet das Schweizerische Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 210, Art. 310 oder 405 in Verbindung mit Art. 421 Ziff. 13). Wird ein Jugendlicher in die "Besondere Unterrichts- und Betreuungsstätte", die an die offenen Wohngruppen gekoppelt ist, eingewiesen, ist zusätzlich ein Beschluss des Schulrates und eine Zustimmung des Amts für Volksschule nötig (Volksschulgesetz, Art. 55bis). Schliesslich ist gemäss der Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung vom 20. März 2009 (SR 312.1) die Polizei dazu berechtigt, Jugendliche während maximal 24 Stunden im Jugendheim Platanenhof festzuhalten.
Auf eidgenössischer Ebene ist das Jugendheim Platanenhof vom Bundesamt für Justiz anerkannt. Es erhält vom Bund Subventionen, welche jedoch an verschiedene Auflagen geknüpft sind. Die gesetzlichen Grundlagen finden sich im Bundesgesetz über die Leistungen des Bundes für den Straf- und Massnahmenvollzug vom 5. Oktober 1984 (SR 341) und in der dazugehörenden Verordnung vom 21. November 2007 (SR 341.1).
Die rechtliche Basis des Jugendheims Platanenhof bildet die Verordnung über die Gefängnisse und Vollzugsanstalten vom 13. Juni 2000 (sGS 962.14). Als Handlungsgrundlage dienen weiter das Reglement für das Jugendheim Platanenhof sowie das Leitbild von 2008. Für die "Besondere Unterrichts- und Betreuungsstätte" (BUB) kommt zusätzlich das Volksschulgesetz vom 13. Januar 1983 (sGS 213.1) zum Tragen. Ein Erziehungsplan, der vom Erziehungsrat erlassen und von der Regierung genehmigt werden muss, regelt den "Betrieb der Besonderen Unterrichts- und Betreuungsstätte".
(Amts-)Leitung
1894-1925: Wüest, Johannes
1925-1947: Hofstetter, Emil
1947-1958: Pfander, Christian
1958-1960: Schneider, E.
1960-1966: Monstein, Hans
1966-1971: Rechsteiner, Rudolf
1971-1984: Rusterholz, Toni
1984-1987: Hunziker, Hansrudolf
1987-1995: Heizmann, Reinhard
1995-2004: Crottogini, Christian
2004-2012: Amann, Hans-Peter
Seit 2012: Müller, Dagmar
Behördengeschichte
1894 gründete die Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St.Gallen in Oberuzwil die "Besserungsanstalt für Knaben". Zweck der Besserungsanstalt war es, 12- bis 16-jährige "jugendliche männliche Personen (Verwahrloste und jugendliche Verbrecher)" aufzunehmen und "dieselben durch die ihr zu Gebote stehenden Mittel der Verbesserung zu tüchtigen Menschen umzubilden." Der Kanton St.Gallen beteiligte sich finanziell am Bau und Betrieb des Jugendheims und beanspruchte dafür die Hälfte der Plätze für sich. Weitere Plätze standen Jugendlichen aus anderen Deutschschweizer Kantonen offen.
Die "Besserungsanstalt für Knaben" war 1895 bezugsbereit. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen ein Gruppenhaus, verschiedene Werkstätten und ein Verwaltungsgebäude hinzu. Seit 1950 wird die "Besserungsanstalt für Knaben" im Amtsbericht mit "Erziehungsheim Platanenhof" bezeichnet. Die Leitung des Jugendheims oblag dem sogenannten Hausvater. Die Aufsicht wurde einer Aufsichtskommission übertragen, in der seit 1897 der zuständige Departementsvorsteher den Vorsitz innehatte. Innerhalb der kantonalen Verwaltung war das Jugendheim dem Polizei- und Militärdepartement zugeteilt. 1935 wurde es dem Erziehungsdepartement unterstellt, wechselte jedoch im 1972 wieder ins Polizeidepartement zurück (seit 2008 Sicherheits- und Justizdepartement).
Aufgrund grösserer anstehender Sanierungsarbeiten sowie geänderter Ansprüche im Straf- und Massnahmenvollzug bei Jugendlichen wurde das Jugendheim Anfang der 1980er-Jahre baulich erweitert und 1980 vom Kanton vollständig übernommen. Zeitgleich erfolgte ein Namenswechsel von "Erziehungsheim Platanenhof" zu "Kantonales Jugendheim Platanenhof". Als grössere strukturelle Änderung ist die Eröffnung der Durchgangsabteilung im Jahr 1982 hervorzuheben, mit der das Jugendheim erstmals über einen geschlossenen Teil verfügte. Diese Abteilung nimmt seit 1986 auch weibliche Jugendliche auf. Mit dem Leistungsauftrag von 1995 wurde der Zweck des Jugendheims angepasst: Es hatte sein Angebot nun explizit auf die Bedürfnisse der Einweisungsbehörden auszurichten, im Speziellen auf diejenigen des Kantons St.Gallen.
2002 wurde dem Jugendheim die "Besondere Unterrichts- und Betreuungsstätte" angegliedert, die von der regulären Oberstufe ausgeschlossene männliche Jugendliche aus dem Kanton St.Gallen aufnimmt. Ein grösserer Umbau erfolgte 2004/2005 mit der Renovation der Durchgangsabteilung, die zeitgleich in "Geschlossene Wohngruppen" umbenannt wurde.
Im Jahr 2007 wurde das Justiz- und Polizeidepartement umstrukturiert und das Amt für Justizvollzug neu geschaffen, welchem das Jugendheim Platanenhof seit 2008 unterstellt ist. In Folge dessen wurden die Aufsichtskommission und der bisherige Leistungsauftrag aufgehoben.
Tätigkeitsbereich (Behördenkompetenzen)
Aufgabe des Jugendheims Platanenhof ist es, zivil- oder strafrechtlich eingewiesene Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 22 Jahren unterzubringen. Das Jugendheim ist in einen geschlossenen und einen offenen Bereich unterteilt:
Bei den Geschlossenen Wohngruppen (GWG) handelt es sich um zwei getrennt geführte Wohngruppen mit je acht Plätzen für weibliche und männliche Jugendliche aus dem Kanton St.Gallen und anderen Kantonen. Die Geschlossenen Wohngruppen dienen der Aufnahme von Jugendlichen, die in ihrer Umgebung einer Selbst- oder Fremdgefährdung ausgesetzt oder in einer offenen Institution nicht tragbar sind, z.B. aufgrund von Aggressivität, Gewalt, Suchtveralten oder Suizidalität. Weiter werden Jugendliche zwecks Abklärung geeigneter Massnahmen aufgenommen. Schliesslich können in den Geschlossenen Wohngruppen Jugendliche zum Vollzug von Freiheitsstrafen untergebracht werden, ebenso Kinder und Jugendliche in Untersuchungshaft. Der Aufenthalt in den Geschlossenen Wohngruppen dauert in der Regel drei Monate. Zu den Geschlossenen Wohngruppen gehören eine Schule, ein Atelier und eine Sicherheitsabteilung.
Die Offenen Wohngruppen (OWG) gliedern sich in drei Wohngruppen mit je acht Plätzen für männliche Jugendliche aus dem Kanton St.Gallen und anderen Kantonen. Die Offenen Wohngruppen dienen der Unterbringung von Jugendlichen, bei denen sich Schwierigkeiten mit der Schule, den Eltern oder auch den Kollegen ergeben haben und deren Zukunft entsprechend gefährdet ist. In den Offenen Wohngruppen absolvieren die Jugendlichen die reguläre Schulpflicht und/oder eine Berufsausbildung.
Eine der Offenen Wohngruppen ist speziell auf Jugendliche der "Besonderen Unterrichts- und Betreuungsstätte" ausgerichtet. Männliche Jugendliche aus dem Kanton St.Gallen, die aus der Oberstufenschule ausgeschlossen wurden, erhalten die Möglichkeit, den Schulabschluss und parallel dazu die Berufsabklärung sowie die Berufsvorbereitung zu realisieren.
Die Werkschule steht Jugendlichen der Offenen Wohngruppen zur Verfügung und gewährleistet den Schulunterricht für Jugendliche der "Besonderen Unterrichts- und Betreuungsstätte". In der Werkschule steht die Auseinandersetzung mit handwerklichen Tätigkeiten wie Metall- oder Holzbearbeitung im Zentrum.
Geführt wird das Jugendheim Platanenhof von einem Heimleiter oder einer Heimleiterin. Diese/r ist verantwortlich für eine den Erkenntnissen der Sozialpädagogik entsprechende und betrieblich abgestützte Erziehung, Ausbildung und Beschäftigung der Jugendlichen. Er oder sie sorgt dafür, dass im Rahmen des Vollzugsauftrags nach wirtschaftlichen und ökologischen Grundsätzen gearbeitet wird. Der Heimleiter oder die Heimleiterin verfügt über die Kompetenz, besondere Sicherungsmassnahmen (z.B. Beschränkung des Verkehrs mit der Aussenwelt, Einschliessung in einer besonderen Zelle) anzuordnen. Weiter liegt die Disziplinargewalt (z.B. Besuchs-, Ausgangs- und Urlaubssperre, Einschliessung im Zimmer) bei der Heimleitung.
Die Betriebe (Schreinerei, Metallwerkstatt, Hauswirtschaft, Küche, Betriebswerkstatt, Landwirtschaft) dienen einerseits dem Betrieb des Jugendheims Platanenhofs, andererseits können die Jugendlichen eine Lehre bzw. Anlehre absolvieren.
Administrative Strukturen
Das Jugendheim Platanenhof untersteht dem Sicherheits- und Justizdepartement und ist eine Abteilung des Amts für Justizvollzug. Dem Heimleiter oder der Heimleiterin sind die Bereiche Offene und Geschlossene Wohngruppen mit je einem Erziehungsleiter oder einer Erziehungsleiterin, die Betriebe, die Werkschule inkl. "Besondere Unterrichts- und Betreuungsstätte" und die Verwaltung unterstellt.
Parallelüberlieferungen
Regierungs- und Kantonsrat: In den Regierungs- und Kantonsratsprotokollen und den dazugehörigen Akten ist die Rolle des Kantons bei der Unterbringung von Jugendlichen im zivil- oder strafrechtlichen Vollzug dokumentiert. Als Schwerpunkte sind Entscheide in den Bereichen Rechtsgrundlagen, Finanzen, Bau- und Raumwesen und die Einstellung leitender Personen zu nennen.
Sicherheits- und Justizdepartement: Beim Sicherheits- und Justizdepartement liegen u.a. Unterlagen zum Personal, Referate der Vorsteherin zum Straf- und Massnahmenvollzug bei Jugendlichen, Berichte der Heimleitung zuhanden des Departements und Vorschriften, die vom Departement genehmigt werden müssen, vor.
Amt für Justizvollzug: Die Amtsleitung ist für die personelle und organisatorische Leitung des Amts zuständig. Sie legt die Strategie im Strafvollzug fest und befasst sich mit übergeordneten inhaltlichen Fragen, die alle Anstalten im Straf- und Massnahmenvollzug betreffen. Zudem begleitet die Amtsleitung Vollzugsfälle, bei denen eine Beurteilung der Gemeingefährlichkeit zu erfolgen hat. Das Amt für Justizvollzug gibt seit 2008 einen Jahresbericht heraus, der die Tätigkeit des Jugendheims Platanenhof in zusammenfassender Form dokumentiert. Hingegen existiert keine Parallelüberlieferung mit der Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug, da die dortigen Personendossiers allein Erwachsene betreffen.
Jugendanwaltschaft: Bei der Einweisung eines Jugendlichen durch die Jugendanwaltschaft entstehen bei dieser Anmeldeformulare, Verfügungen, Urteile, Entscheide, Gutachten und Abklärungsberichte. Die Unterlagen werden in den Jugendlichenakten in der Regel ebenfalls abgelegt. Umgekehrt erstattet das Jugendheim Platanenhof der einweisenden Behörde über den Verlauf des Heimaufenthalts Bericht.
Vormundschaftsbehörden: dito.
Polizei: Die Polizei kann einen Jugendlichen für 24 Stunden ins Jugendheim Platanenhof einweisen. Der Festnahmerapport ist bei der Polizei wie auch in der Jugendlichenakte vorhanden.
Amt für Volksschule: Das Amt für Volksschule prüft auf Antrag des Schulrates die Unterbringung eines Jugendlichen in der "Besonderen Unterrichts- und Betreuungsstätte". Die entstehenden Abklärungsunterlagen und die Zustimmung des Amts für Volksschule sind auch in den Jugendlichenakten vorhanden.
Archiv der Gemeinnützigen Gesellschaft St.Gallen: Die Gemeinnützige Gesellschaft hat das Jugendheim 1894 mit finanzieller Unterstützung des Kantons gegründet. Die im Staatsarchiv vorhandenen Unterlagen sind in der Zeit zwischen 1883 und 1978 entstanden und umfassen u.a. Akten zur Vorgeschichte des Heims, Unterlagen zu den Liegenschaften, Korrespondenz.
Vernetzung: Das Jugendheim Platanenhof ist mit diversen Verbänden, Fachgruppen, Konferenzen etc. vernetzt (z.B. Schweizerische Jugendheimleiterkonferenz). Es ist davon auszugehen, dass Akten wie Protokolle dieser Gremien bei den Verbänden und Konferenzen ebenfalls vorliegen.
Amtsberichte/Geschäftsberichte: Bis 2008 wurde in den Amtsberichten jährlich in summarischer Form über das Jugendheim Platanenhof Bericht erstattet (mit einer Lücke von 1954 bis 1979). Anfänglich sind v.a. Informationen zu den Kostenbeiträgen des Kantons, zur Anzahl der Ein- und Austritte, zum Alter der Kinder und Jugendlichen und zu den Einweisungsbehörden zu finden. In den Amtsberichten ab 1980 wird z.T. ausführlich über Umbauprojekte, Erziehungskonzepte oder Ausbildungsstätten berichtet.
2008 wurde der Amtsbericht durch den Geschäftsbericht ersetzt. Dieser ist thematisch aufgebaut, so dass das Jugendheim Platanenhof nicht mehr einen eigenen Absatz
erhält, sondern sein Wirken – wenn überhaupt – unter den jeweiligen Geschäften zu finden ist.
Literatur: Zum Jugendheim Platanenhof liegt eine Jubiläumsschrift zum 50-jährigen Bestehen vor (Hohlenstein, Walther. Erziehungsanstalt Oberuzwil. St.Gallen 1946).
Internet: Die Tätigkeiten und Aufgaben des Jugendheims Platanenhof sind im Internet dokumentiert: www.platanenhof.sg.ch.
Bewertung der organisatorischen Gesamtfunktion
Mit der Gründung 1894 ist das Jugendheim Platanenhof eine Dienststelle mit langer Tradition, die seit 1980 eine Institution des Kantons St.Gallen ist. Sie ist auf der Ebene einer Abteilung des Amts für Justizvollzug für den Vollzug von straf- und zivilrechtlichen Mass-nahmen, für Kriseninterventionen und für die Beobachtung und Begutachtung von Jugendlichen zuständig. Das Jugendheim bildet eine Schnittstelle zur Jugendanwaltschaft und zu den Vormundschaftsbehörden einerseits, zu anderen Massnahmeninstitutionen, Oberstufenschulen und externen Lehrbetrieben andererseits. Von den Kompetenzen her ist das Jugendheim Platanenhof eine Dienststelle mit Vollzugsfunktion, verfügt aber auch über das Recht, Disziplinar- und Sicherheitsmassnahmen anzuordnen. Gleichzeitig handelt es sich um eine interkantonal tätige Dienststelle, weshalb sie von überregionaler Bedeutung ist.
Historische Kriterien
Das Jugendheim Platanenhof lässt sich in das übergreifende Themengebiet Kinder- und Jugendfürsorge einordnen. War die Geschichte der Kinder- und Jugendfürsorge während langer Zeit ein wenig bearbeitetes Feld in der Geschichtsforschung, brachte das Nationalfondsprojekt "Integration und Ausschluss" verschiedene wissenschaftliche Studien ins Rollen. Einzelne Bereiche wie das Verdingwesen, das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" oder der Kinderschutz gelangten zu einer ersten Aufarbeitung. Derzeit noch ausstehend ist ein Werk, das sich vertieft mit der Geschichte des Straf- und Massnahmenvollzugs bei Jugendlichen befasst. Eine Ausnahme bildet der Abriss von Germann, der einen guten Überblick über die Entwicklung der Jugendstrafrechtspflege in Zusammenhang mit der organisierten Gemeinnützigkeit bietet (Germann, Urs. Bessernde Humanität statt strafender Strenge: Organisierte Gemeinnützigkeit und die Entwicklung der Jugendstrafrechtspflege im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Schumacher, Beatrice. Freiwillig verpflichtet: Gemeinnütziges Denken und Handeln in der Schweiz seit 1800. Zürich 2010, S. 213-244).
In den letzten Jahren erschienen verschiedene populärwissenschaftliche Werke, die sich der Geschichte der Kinder- und Jugendfürsorge widmen (u.a. Biographien von Betroffenen). Auch in den Medien erhielt das Thema erhöhte Aufmerksamkeit. Insbesondere die Geschichte der Verdingkinder erlebt derzeit (Stand: November 2011) bei einem breiten Publikum einen "Boom", was sich u.a. in einer Wanderausstellung und einem Kinofilm geäussert hat.
Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass die Kinder- und Jugendfürsorge auf eidgenössischer und kantonaler Ebene ein zentraler Gegenstand politischer Debatten ist. So löst beispielsweise der Umgang mit jugendlichen Straftäterinnen und Straftätern im Spannungsfeld zwischen Integration und Repression immer wieder politische Kontroversen aus. Gleichzeitig sind Fragen nach der Aufarbeitung bzw. Wiedergutmachung von aus heutiger Sicht problematischen Aspekten des Umgangs der Behörden mit Kindern und Jugendlichen ein fester Bestandteil der politischen Agenda, was sich in verschiedenen parlamentarischen Vorstössen und Initiativen niederschlug.
Aufgrund des breit abgestützten Interesses an der Geschichte der Kinder- und Jugendfürsorge ist anzunehmen, dass die Geschichte des Jugendheims Platanenhof über kurz oder lang in den Fokus der Geschichtsforschung rücken wird. Die Akten des Jugendheims Platanenhof sind insofern eine wertvolle historische Quelle, als sie über einen hohen Informationswert verfügen und - abgesehen von einigen Lücken - vollständig vorhanden sind. So geben u.a. die Jugendlichenakten Einblick in die Lebensumstände der Jugendlichen, gleichzeitig illustrieren sie die konkrete Umsetzung der rechtlichen und administrativen Vorgaben im Einzelfall. Auch liessen die Akten Vergleiche über die Zeit hinweg zu, z.B. über die Veränderung pädagogischer Strömungen. Darüber hinaus kommt den Akten des Jugendheims Platanenhof ein gewisser Einzigartigkeitswert für den Kanton St.Gallen zu, da die Aktenlage bei vergleichbaren Provenienzen lückenhaft ist.
Rechtliche Kriterien
Bei den Jugendlichenakten kommen verschiedene Überlegungen zum Tragen:
Straf- und Massnahmenvollzug: Sofern ein Jugendlicher mehrere Aufenthalte im Jugendheim Platanenhof hat, so wird bei jedem Eintritt ein neue Akte gebildet. Bereits vorhandene Akten werden jedoch nochmals konsultiert. Für das Jugendheim besteht daher eine Rückgriffsnotwendigkeit auf die Jugendlichenakten während des potentiell möglichen Zeitraums, in welchem ein Jugendlicher in das Heim eingewiesen werden kann. Die oberste Alterslimite ist bei 22 Jahren festgesetzt, weshalb die Jugendlichenakten zumindest bis zum erreichten 23. Altersjahr einer Person vor Ort benötigt werden.
Rückgriff durch andere Institutionen: Es kommt immer wieder vor, dass psychiatrische Kliniken oder Institutionen aus dem Straf- und Massnahmenvollzug eine Jugendlichenakte einsehen möchten, wenn eine Person in deren Institution eingewiesen wird. Als Richtwert kann festgehalten werden, dass eine Jugendlichenakte bis 20 Jahre nach Dossierschluss für eine andere Institution von Relevanz ist. Bei älteren Akten findet in der Regel kein Rückgriff mehr statt.
Rückgriff durch Betroffene: Gelegentlich möchten ehemalige Insassen des Jugendheims ihre Akte einsehen (durchschnittlich fünfmal pro Jahr).
Nachvollziehbarkeit staatlichen Handelns (Edivenzwert): Bei den Jugendlichenakten kommt der Nachvollziehbarkeit staatlichen Handelns eine besondere Bedeutung zu. Die Einweisung eines Jugendlichen in das Jugendheim Platanenhof bedeutet einen Eingriff des Staates in das Grundrecht auf persönliche Freiheit. Die staatliche Nachweispflicht fällt daher entsprechend höher aus als bei anderen Amtshandlungen. Zusammenfassende Dokumentation wie Statistiken und Verzeichnisse sind zwar vorhanden, sie geben aber nur bedingt Auskunft über den Einzelfall (z.B. über die getroffenen Massnahmen). Dies spricht für eine Aufbewahrung der Jugendlichenakten über den Entstehungszeitraum hinaus.
Vereinbarung
Vereinbarung zwischen dem Staatsarchiv und dem Jugendheim Platanenhof vom 8. Februar 2012:
Dauernde Aufbewahrung:
- Rechtliche und organisatorische Grundlagen (Reglemente, Weisungen, Leitfäden, Merkblätter, Organigramme etc.)
- Leitungssitzungen: Protokolle
- Verwaltungssitzungen: Protokolle
- Koordinationssitzungen: Protokolle
- Gruppenleitersitzungen: Protokolle
- Jugendlichenverzeichnisse
- Jugendlichenakten: Akten mit Einweisungsdatum vor 1982: dauernde Aufbewahrung, Akten mit Einweisungsdatum ab 1982: Auswahl dauernd (Zufallsstichprobe) in Kombination mit der Auswahl "besonderer Fälle"
- Personaldossiers: Auswahl "besonderer Fälle"
- Statistiken
Angebotspflicht gegenüber Staatsarchiv:
- Unterlagen Arbeitsgruppen
- Audiovisuelle Unterlagen (Fotografien, Filme)
Vernichtung (nach Ablauf der rechtlichen und administrativen Fristen):
- Teamsitzungen: Protokolle
- Rechnungsunterlagen
Schutzfrist
Zeitraumende
Schutzfristdauer
30 Jahre
Schutzfristkategorie
Sachakten (30 Jahre)
Ende der Schutzfrist
12/31/2041
Bewilligung
Staatsarchiv
Zugänglichkeit
Archivmitarbeiter/-innen
Physische Benutzbarkeit
Uneingeschränkt