Spitalregion Rheintal Werdenberg Sarganserland
Titel
Spitalregion Rheintal Werdenberg Sarganserland
Stufe
Fonds
Entstehungszeitraum
1867-2013
Entstehungszeitraum, Anmerkung
Inkl. Unterlagen der bis 2003 eigenständigen Spitäler Altstätten, Grabs und Walenstadt (= Vorgängerinstitutionen)
Existenzzeitraum
2003.01.01-
Verwandte Körperschaften, Familien, Personen
Spital Altstätten, Spital Grabs, Spital Walenstadt
Zuständiges Departement: GD
Geographische Angaben (Adresse)
Alte Landstrasse 106, 9445 Rebstein
Rechtsform
Körperschaft
Rechtsgrundlagen
Das Gesundheitsgesetz vom 28. Juni 1979 (sGS 311.1) legt in übergreifender Art und Weise die Organisation und Zuständigkeiten im kantonalen Gesundheitswesen fest. Für das Spitalwesen im engeren Sinn stellte bis zur Spitalreform Quadriga die Verordnung über die medizinische und betriebliche Organisation der kantonalen Spitäler, psychiatrischen Kliniken und des Zentrums für Labormedizin (Spitalorganisationsverordnung, sGS 321.11) die zentrale rechtliche Grundlage der Spitäler dar.
Infolge der Spitalreform wurde die Spitalorganisationsverordnung in wesentlichen Teilen durch das Gesetz über die Spitalverbunde vom 22. September 2002 (sGS 320.2) und das Statut der Spitalverbunde des Kantons St.Gallen vom 11. Mai 2006 (sGS 320.30) ersetzt. Die Spitalorganisationsverordnung hat in Bezug auf Bestimmungen über Rechte und Pflichten der Patientinnen und Patienten allerdings weiterhin Gültigkeit.
Als Handlungsgrundlage für die Spitalverbunde dienen jährlich neu erstellte Leistungsaufträge der Regierung, welche den Umfang und die Qualität des Versorgungsangebots sowie die Kostenbeteiligung des Kantons regeln.
(Amts-)Leitung
Geschäftsleitung: -2008 Johannes Seitz
2008-2009 Paul-Josef Hangartner
2009- Stefan Lichtensteiger
Behördengeschichte
Die heute im Kanton St.Gallen bestehenden Spitäler wurden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründet. Während das Kantonsspital St.Gallen und die Spitäler in Grabs, Walenstadt und Uznach praktisch von Beginn weg vom Kanton betrieben wurden, waren an den übrigen Standorten lange Zeit die Gemeinden für die Spitäler verantwortlich. Erst seit den 1980er-Jahren wurden sie nach und nach vom Kanton übernommen (Flawil 1987, Rorschach 1989, Altstätten 1991, Wattwil und Wil 2003) und analog wie die übrigen kantonalen Spitäler dem Gesundheitsdepartement unterstellt.
In den Jahren 1999/2000 wurde im Kanton St.Gallen unter der Bezeichnung Quadriga I eine umfassende Spitalreform durchgeführt, die am 1. Januar 2003 in Kraft trat. Im Gegensatz zu anderen Kantonen, die auf Spitalschliessungen setzten (z.B. Zürich), entschied sich St.Gallen für den Zusammenschluss der Spitäler zu Spitalverbunden. Ziel war, mittels Leistungskonzentrationen und der Nutzung von Synergien die Kosten zu verringern und die Wirtschaftlichkeit zu verbessern. Mit der Reform ging eine Trennung der strategischen und operativen Ebene einher. Auf operativer Ebene wurden vier Spitalverbunde geschaffen, bei denen es sich um öffentlich-rechtliche selbständige Anstalten handelt. Die kantonalen Spitäler wurden zu folgenden Spitalverbunden bzw. -regionen zusammengefasst:
- Spitalregion Rheintal Werdenberg Sarganserland (Spital Altstätten, Spital Grabs, Spital Walenstadt)
- Kantonsspital St.Gallen (Kantonsspital St.Gallen, Spital Rorschach, Spital Flawil)
- Spital Linth (Spital Linth)
- Spitalregion Fürstenland Toggenburg (Spital Wattwil, Spital Wil)
Für die strategische Leitung der Spitäler wurden vier Verwaltungsgremien eingesetzt, die Aufsichtskommissionen wurden aufgelöst. Mit einem Nachtrag zum Gesetz über die Spitalverbunde (Quadriga II) wurden die Verwaltungsgremien wieder aufgehoben und ab dem 1. Januar 2006 durch einen einzigen Verwaltungsrat ersetzt.
Tätigkeitsbereich (Behördenkompetenzen)
Aufgabe der kantonalen Spitäler ist es, die medizinische Grundversorgung des jeweiligen Einzugsgebiets zu gewährleisten. Die Spitäler sind für die Aufnahme stationärer und ambulanter Patientinnen und Patienten zur ärztlichen Diagnose, Behandlung und Pflege sowie die Sicherstellung der permanenten Notfallversorgung verantwortlich. Die Spitäler sind dabei verpflichtet, ihre Aufgaben nach den neusten medizinischen Erkenntnissen und ethischen Grundsätzen auszurichten und entsprechende Aus-, Weiter- und Fortbildungen anzubieten. Weiter betreiben die Spitäler Forschung in festgelegten Fachbereichen.
Die Spitalverbunde sind rechtlich als selbständig öffentlich-rechtliche Anstalten organisiert. Als solche betreiben sie die ihnen unterstellten Spitäler gemäss einem von der Regierung vorgegebenen Leistungsauftrag und werden durch einen Globalkredit finanziert. Aufgabe der Spitalverbunde ist es, die bedarfsgerechte Spitalversorgung, die Notfallversorgung bei Krankheit und Unfall und die Aus- und Weiterbildung in den Berufen des Gesundheitswesens sicherzustellen. Die Spitalverbunde sind in verschiedene klinische Fachgebiete unterteilt: Akutgeriatrie, Chirurgie, Geburtshilfe, Gynäkologie, Innere Medizin und Leistungen in den Bereichen Anästhesiologie und Radiologie. Beim grössten Spitalverbund Kantonsspital St.Gallen kommen weitere Fachbereiche hinzu, z.B. Nuklearmedizin, Neurologie, Palliativmedizin oder Urologie.
Administrative Strukturen
bis 2003:
Den einzelnen Spitälern stand bis zur Spitalreform Quadriga je eine Spitalleitung vor. Diese behandelte Fragen des Gesamtbetriebs und war u.a. für den Erlass von Weisungen, Budgetberatungen, Vorschläge für die Wahl leitender Ärzte und Ärztinnen und Koordinationsaufgaben zuständig.Die Spitalkommission war für die Spitalaufsicht verantwortlich. Des Weiteren erliess sie z.B. die Hausordnung und weitere interne Reglemente, beriet wichtige Planungsfragen medizinischer, baulicher und betrieblicher Art sowie den jährlichen Voranschlag zuhanden der Regierung und schlug leitende Personen zur Wahl vor.
ab 2003:
Infolge der Spitalreform Quadriga wurden die kantonalen Spitäler in vier Spitalverbunde mit je einer Geschäftsleitung zusammengefasst, denen ein gemeinsamer Verwaltungsrat vorsteht. Die Spitalverbund-Geschäftsleitung setzt den Leistungsauftrag und die vom Verwaltungsrat festgelegte Strategie in den Spitälern um. Sie ist für die Personalentwicklung und die Kommunikation mit externen und internen Bezugsgruppen verantwortlich.
Parallelüberlieferungen
Wichtige Partner der Spitalverbunde und Spitäler, bei denen von zumindest einer teilweisen Parallelüberlieferung auszugehen ist:
- Parlament und Regierung: In den Regierungs- und Kantonsratsprotokollen sowie den dazugehörigen Akten ist die Rolle des Kantons zur Sicherung der Gesundheitsversorgung im Spitalbereich dokumentiert. Als Schwerpunkte sind Entscheide in den Bereichen Rechtsgrundlagen, Finanzen, Bau- und Raumwesen und Wahlgeschäfte zu nennen. Zudem beschliesst der Kantonsrat die Globalkredite, nimmt die Oberaufsicht über die Spitalverbunde wahr und genehmigt die Leistungsaufträge.
- Verwaltungsrat des Spitalverbunds (mit Geschäftsstelle): Der Verwaltungsrat ist für die unternehmensstrategische Führung der Spitalverbunde verantwortlich, wobei die Vorsteherin oder der Vorsteher des Gesundheitsdepartements das Präsidium innehat. Der Verwaltungsrat führt die Geschäfte der Spitalverbunde, soweit er die Geschäftsführung nicht übertragen hat. Er ist u.a. für die Oberleitung der Anstalt oder die Wahl der Geschäftsleitung zuständig. Die Geschäftsstelle des Verwaltungsrats fungiert als Schnittstelle zwischen Verwaltungsrat und Geschäftsleitung. Sie plant und koordiniert die Sitzungen des Verwaltungsrats und des Koordinations-Ausschusses, übernimmt die Vor- und Nachbesprechung der bearbeiteten Traktanden und erstellt die Protokolle des Verwaltungsrates.
- GD-Generalsekretariat (GD-GS): Das GD-GS ist die zentrale Planungs- und Koordinationsstelle des Gesundheitsdepartements, wobei auch Unterlagen zu den Spitalverbunden und Spitälern anfallen. Zu nennen sind einerseits Unterlagen politisch-strategischer (GS im engeren Sinn) und rechtlicher Art (GD-Rechtsdienst). Andererseits befanden sich bis 2002 beim GD-Dienst für Personal und Finanzen Personaldossiers von Chefärztinnen und Chefärzten sowie leitenden Ärztinnen und Ärzten. Seit 2003 werden diese Dossiers von den Spitalverbunden geführt.
- Amt für Gesundheitsversorgung: Das Amt für Gesundheitsversorgung ist für die kantonale Spitalplanung und die Belange der Spitalfinanzierung zuständig. Es erarbeitet die Grundlagen, anhand derer die Regierung und das Parlament über das Leistungsangebot zur Sicherstellung der flächendeckenden Gesundheitsversorgung sowie Art und Umfang der Finanzierung entscheiden. Diese Grundlagen beinhalten neben der Ausarbeitung geeigneter Finanzierungssysteme auch die Festlegung einer zweckmässigen Spitalorganisation. Entsprechend sind hier Unterlagen zu Organisation, Strategie- und Finanzplanung der Spitäler zu finden.
Amtsdruckschriften:
- Amtsberichte/Geschäftsberichte der Regierung: Bis 2008 wurde in den Amtsberichten jährlich in summarischer Form über die Spitäler bzw. Spitalverbunde Bericht erstattet. Im statistischen Teil des Amtsberichts wurden ausgewählte betriebliche und finanzielle Kennziffern zu den Spitälern aufgeführt (Versorgungsangebot und -nutzung, Ertrag je Pflegetag). 2008 wurde der Amtsbericht durch den Geschäftsbericht ersetzt. Dieser ist thematisch aufgebaut, sodass die Spitäler nicht mehr einen eigenen Absatz erhalten, sondern ihr Wirken nur noch punktuell und summarisch zum Ausdruck kommt.
- Jahresberichte der Spitäler/Spitalverbunde: Bis zur Spitalreform Quadriga führte jedes Spital einen Jahresbericht. Die Jahresberichte beinhalten neben der Jahresrechnung detaillierte Statistiken. Seit 2003 legen die Spitalverbunde in einem gemeinsamen Jahresbericht Rechenschaft über die Erfüllung des Leistungsauftrags und die Verwendung der Mittel ab. Zu finden sind u.a. Kennzahlen zum Personalbestand, Informationen zu den Pflegetagen, aber auch Angaben zu Infrastruktur und zum Leistungsangebot.
Öffentliche Statistiken:
- GD/Finanzverwaltung des Kantons St.Gallen: Kennzahlen der st.gallischen Akutspitäler, psychiatrischen Kliniken und Rehabilitationskliniken: Darin sind verschiedene Kennzahlen zu Akutspitälern zu finden. Die Kennzahlen werden aktuell nicht mehr geführt (Stand: Januar 2014).
- Kantonale Fachstelle für Statistik: Die Fachstelle für Statistik führt das Spitalwesen betreffende statistischen Angaben des ehemaligen Amtsberichts weiter.
- Bundesamt für Statistik (BfS): Das Bundesamt für Statistik wertet jährlich Kennzahlen aus und publiziert medizinische Statistiken auf der Website. Daneben liegen die Statistiken zumindest teilweise in gedruckter Form vor. Die Datenerfassung erfolgt durch die einzelnen Spitäler auf Ebene der einzelnen Patientin oder des einzelnen Patienten (bei Austritt) und wird seit Ende der 1990er-Jahre in allen Krankenhäusern der Schweiz obligatorisch durchgeführt ("Krankenhausstatistik"). Erfasst werden 50 Variablen, die Auskunft über den soziodemografischen Hintergrund des Patienten oder der Patientin, Merkmale der Hospitalisierung und den Austritt geben. Insgesamt werden bis zu 30 Diagnosen und Behandlungen aufgezeichnet.
Literatur:
- 100 Jahre Spital Grabs: Spital mit Zukunft, Grabs 2007.
- Kantonales Spital Walenstadt (Hrsg.): 1891-1990 - Unsere ersten 100 Jahre, Walenstadt 1991.
- Stricker, Barbara: Hundert Jahre Spital Grabs. Die turbulente Gründungszeit des kleinen Bezirkskrankenhauses und dessen Entwicklung zum grössten Landspital im Kanton St.Gallen, in: Werdenberger Jahrbuch, Jg. 21 (2008), S. 222-231.
- Vom Werdenbergischen Bezirkskrankenhaus zum kantonalen Spital Grabs, Buchs 1989 (Einzeldruckschriften des Kantonalen Spitals Grabs).
- Jäger, Martin; Poltera, Markus: Das kantonale Spitalwesen im 20. Jahrhundert, in: Zeit für Medizin! Einblicke in die St.Galler Medizingeschichte, St.Gallen 2011, S.117-126 (Neujahrsblatt; Historischer Verein des Kantons St.Gallen; 151).
Bewertung der organisatorischen Gesamtfunktion
Bei den Spitälern, deren Gründung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts oder anfangs des 20. Jahrhunderts erfolgte, handelt es sich um Institutionen mit langer Tradition. Mit der Erfüllung der medizinischen Grundversorgung im Akutspitalbereich erfüllen die Spitäler eine zentrale Aufgabe des Staates und tangieren elementare Lebensbereiche der Bürgerinnen und Bürger (Geburt, Tod, Gesundheit). Die Spitäler sind der grösste Arbeitgeber im Kanton. Dabei ist das Gesundheitswesen – neben dem Bildungsbereich – eine der Domänen, bei denen die Hauptkompetenz bei den Kantonen und nicht beim Bund liegt.
Dies schlägt sich in den hohen finanziellen und personellen Ressourcen nieder, die der Kanton für die Spitäler aufwendet. Von den 2010 getätigten Ausgaben des Kantons in der Höhe von 4.3 Milliarden Fr. kamen 578.6 Millionen Fr. oder 13.4 % dem Gesundheitsbereich zu. Davon fielen den Spitalverbunden 305.4 Millionen Fr. oder 52 % zu. Das Spannungsfeld zwischen Wirtschaftlichkeit und Qualität, in welchem sich die Spitäler bewegen, macht sie zu einem Brennpunkt der politischen Diskussion und des öffentlichen Interesses.
Historische Kriterien
Die Geschichte der Medizin und des Gesundheitswesens bildet heute in vielfältiger Art und Weise Gegenstand der historischen Forschung. Zu finden sind Überblickswerke, die eine Tour d'Horizon über die medizinischen Entwicklungen von der Antike bis heute bieten, aber auch Studien, welche einzelne Teilbereiche der Medizin, Krankheiten, Behandlungsmethoden, Berufsgruppen (Ärzteschaft, Pflegepersonal) oder Institutionen in den Fokus nehmen. Besonders hervorzuheben sind seit den 1990er-Jahren entstehende Untersuchungen, welche nicht deskriptiv vorgehen, sondern die Geschichte der Medizin aus unterschiedlicher Perspektive in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext stellen. Diesbezüglich am weitesten fortgeschritten ist die Erforschung der Psychiatriegeschichte, während kritische Werke zur Spitalgeschichte bislang weitgehend fehlen.
Unabhängig davon sind die Unterlagen der Spitalverbunde und Spitäler des Kantons St.Gallen für die historische Forschung von potentiellem Interesse. Im Hinblick auf das kantonale Spitalwesen als Ganzes sind die zentralen Unterlagen der Leitungs- und Aufsichtsgremien (rechtliche und organisatorische Grundlagen, Protokolle, Statistiken, Jahresberichte und allfällige weitere Amtsdruckschriften) von grösster Relevanz. Diese Unterlagentypen geben Einblick in die Entwicklung der komplexen Funktionsweise und Organisationsstruktur der Spitäler sowie die zugrundeliegenden technisch-medizinischen Veränderungen. Ebenfalls widerspiegeln sie das Spannungsfeld zwischen dem medizinisch Notwendigen (oder zumindest Wünschenswerten) und dem wirtschaftlich Machbaren sowie zwischen fachlicher Qualität und betrieblicher Effizienz, in welchem sich die Spitäler spätestens seit den 1990er-Jahren bewegen. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Lösungen, wie die Kantone mit der Tendenz zur Leistungskonzentration umgehen, könnten diese Unterlagen in regionalgeschichtlicher Perspektive von Bedeutung sein. Aus ereignisgeschichtlicher Sicht dürften zudem Unterlagen, welche den Umgang mit medizinischen Grossereignissen wie Seuchen oder Epidemien dokumentieren, auf besonderes Interesse stossen.
Der Informationswert der patientenbezogenen Unterlagen erscheint auf den ersten Blick als vergleichsweise bescheiden; dennoch ist ihr Einbezug für bestimmte historische Fragestellungen unverzichtbar. Im Zentrum steht dabei nicht der Einzelfall, sondern vielmehr das medizinische Handeln, die Rolle der beteiligten Akteurinnen und Akteure und ihr Verhältnis untereinander sowie die zugrundeliegenden Antriebskräfte und Werthaltungen. Krankengeschichten geben Aufschluss über Diagnose- und Therapietechniken, ihren zeitlichen Wandel und regionale Unterschiede (z.B. Stadt/Land) und dokumentieren allfällige Diskrepanzen zwischen den proklamierten Therapieprinzipien und der Praxis. Ebenfalls lassen sich Rückschlüsse auf die Patientinnen und Patienten ziehen, die sich in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang verorten lassen (z.B. Welche Normen bestehen in der Gesellschaft, wann man zum Arzt bzw. ins Spital geht? Welche medizinischen Diskurse haben Eingang in die Bevölkerung gefunden? Welche kollektiven Hoffnungen und Ängste lassen sich daraus ableiten?). Des Weiteren widerspiegeln Krankengeschichten das Arzt-Patienten-Verhältnis, welches Aufschluss über Wert-vorstellungen in der Gesellschaft geben kann (z.B. welche Fragen stellt der Arzt/die Ärztin dem Patient/der Patientin? Wie stark wird er/sie in die Diagnosestellung einbezogen? Wie gestaltet sich die ärztliche Sprache? Wie verändert sich die ärztliche Wahrnehmung von Krankheit und Gesundheit über die Zeit hinweg?). Dabei legen Krankengeschichten Zeugnis ab über die Akzeptanz der Patientin oder des Patienten gegenüber den empfohlenen Therapiemethoden und lassen Rückschlüsse auf eigene, allenfalls konträre Wertvorstellungen zu (z.B. Verweigerung von Bluttransfusionen aus religiösen Gründen).
Dies ist insbesondere deshalb von Bedeutung, weil die moderne historische Forschung verstärkt Machtverhältnisse in Institutionen und die Handlungsspielräume der Betroffenen ("agency") ins Zentrum von Untersuchungen stellt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass – auch wenn derzeit erst wenige Untersuchungen zum Spitalwesen vorliegen – die Thematik in der Geschichtsforschung durchaus aktuell ist.
Rechtliche Kriterien
A) Rechtliche oder administrative Mindestaufbewahrungspflichten und -fristen:
Die Arbeitsgruppe ARSU hat 2010 auf der Basis rechtlicher Grundlagen für die verschiedenen Unterlagentypen Mindestaufbewahrungsfristen festgelegt. Im Grundsatz soll für Unterlagen, welche sensible Daten von Patientinnen und Patienten enthalten, eine 20-jährige Mindestaufbewahrungsfrist gelten. Dies kommt insbesondere zum Tragen für:
- Krankengeschichten
- Patientenverzeichnisse
- Medizinische Protokolle
Die Spitalorganisationsverordnung (sGS 321.11, Art. 62) setzt für Krankengeschichten eine Aufbewahrungsfrist von mindestens 10 Jahren fest. In medizinischen Teilbereichen schreibt das Bundesrecht zudem eine Aufbewahrungsfrist von 20 Jahren vor. So sind gemäss dem Heilmittelgesetz (SR 812.21, Art. 40) Aufzeichnungen zum Umgang mit Blut und Blutprodukten 20 Jahre aufzubewahren. Dasselbe gilt laut Transplantationsgesetz (SR 810.21, Art. 35) für Aufzeichnungen zum Umgang mit Organen, Geweben oder Zellen. Schliesslich hält die Medizinische Strahlenquellenverordnung (SR. 814.501.512, Art. 5) für Daten zu Bestrahlungen eine 20-jährige Aufbewahrungsfrist fest. Im Hinblick auf langfristige Sozialversicherungsleistungen (Invaliditäts-, Unfall- oder Militärversicherung) kann es sich grundsätzlich empfehlen, Krankengeschichten über die 10-jährige Aufbewahrungsfrist hinaus aufzubewahren. Auch aus medizinischer Sicht kann eine Aufbewahrung von Krankengeschichten über die Mindestaufbewahrungsfrist sinnvoll sein (chronische Krankheiten, Krebserkrankungen, Operationen). Daher hat die Arbeitsgruppe ARSU für Patientendaten eine Aufbewahrungsfrist von 20 Jahren festgelegt.
Für Unterlagen aus dem Bereich medizinische Komplementärdokumentation (Röntgenbilder, coriometrische Aufzeichnungen etc.) gilt grundsätzlich ebenfalls eine 20-jährige Aufbewahrungsfrist. Sofern kein Bundesgesetz und/oder medizinische Gründe dagegen sprechen, ist auch eine Vernichtung nach 10 Jahren möglich.
Eine 10-jährige Mindest-Aufbewahrungsfrist wurde für Unterlagen festgelegt, welche administrativen oder betriebsinternen Charakter haben und keine sensiblen Patientendaten beinhalten, insbesondere:
- Rechnungsunterlagen: Für Rechungsunterlagen besteht eine grundsätzliche Aufbewahrungspflicht von 10 Jahren (in sachgemässer Anwendung von Art. 590, 730c und 747 sowie Art. 957 und 962 des Schweizerischen Obligationenrecht, SR 220, und der eidgenössischen Geschäftsbücherverordnung, SR 221.431).
- Personalunterlagen: Für Personalunterlagen gilt gemäss der kantonalen Besoldungsverordnung eine 10-jährige Aufbewahrungsfrist, berechnet ab Austritt aus dem Dienstverhältnis (sGS 143.2, Art. 24).
- Protokolle der Spitalleitung, Spitalverbunde-Geschäftsleitung etc.
- Interne Reglemente, Weisungen
- Jahresberichte
- Statistiken
B) Dauernde Archivierung von Patientendaten:
Auf Vorschlag der Fachstelle Recht und Legistik (RELEG) dient für die dauernde Archivierung von Patientendaten das Humanforschungsgesetz (HFG) als Grundlage, welches per 1.1.2014 in Kraft trat. Das HFG normiert neu abschliessend die Voraussetzungen für die Weiterverwendung von gesundheitsbezogenen Personendaten für die Forschung zu Krankheiten des Menschen. In den Anwendungsbereich des HFG fallen insbesondere auch die medizinische Geschichtsforschung, epidemiologische Studien sowie sämtliche retrospektiven klinischen Forschungen. Unter den Begriff "Weiterverwendung" fallen das Sammeln, das Untersuchen und das Aufbewahren von gesundheitsbezogenen Personendaten (Entwurf der Humanforschungsverordnung 2 vom 23. Juli 2012, Art. 22). In Bezug auf rechtliche Fragen bei der Archivierung von Patientendaten wird daher der folgende Weg eingeschlagen:
- Übernahme: Die Übernahme von Patientendaten ins Staatsarchiv muss in Anwendung von Art. 45 in Verbindung mit Art. 34 HFG von der kantonalen Ethikkommission bewilligt werden. Die Ethikkommission kann eine solche Bewilligung für die Weiterwendung von Patientendaten zu Forschungszwecken erteilen, wenn keine Einwilligung der betroffenen Personen vorliegt und es nicht möglich ist, eine solche Einwilligung einzuholen. Des Weiteren ermöglicht Art. 321bis Abs. 2 des Strafgesetzbuches (StGB) die Offenbarung des Berufsgeheimnisses neu zu Forschungszwecken, wenn die Voraussetzungen nach Art. 34 HFG vorliegen und die Ethikkommission die Offenbarung bewilligt hat. Der Anwendungsbereich des Art. 321 bis Abs. 2 des StGB wird deutlich ausgeweitet. Neu fallen sämtliche Forschungen zu Krankheiten unter diese Bestimmung und es ist eine nicht projektbezogene, generelle Bewilligung der Offenbarung zu Forschungszwecken an nicht verschlüsselten Daten möglich. Das Staatsarchiv wird nach Inkrafttreten des HFG bei der kantonalen Ethikkommission ein Gesuch einreichen, welches die Übernahme von gesundheitsbezogenen Patientendaten ins Staatsarchiv regelt.
- Benutzung: Für die Benutzung von Patientendaten aus dem Staatsarchiv für Forschungsprojekte zu Krankheiten des Menschen braucht es ebenfalls eine Bewilligung der kantonalen Ethikkommission. Diese erfolgt im Einzelfall und projektbezogen auf Gesuch hin.
C) Bedeutung im Hinblick auf Rechtssicherheit und Interessenwahrung (für den Staat oder Private) sowie für die Nachvollziehbarkeit staatlichen Handelns:
Sowohl aus Sicht des Staates wie auch der Betroffenen besteht im Sinne der Rechtssicherheit das Interesse, medizinische Eingriffe (z.B. Bluttransfusionen, Organtransplantation) über den Spitalaufenthalt hinaus zu dokumentieren, um sich bei allfällig später auftretenden Komplikationen absichern zu können. Diesem Interesse wird mit der 20-jährigen Aufbewahrungsfrist für Krankengeschichten Rechnung getragen. Über diesen Zeitraum hinaus findet gemäss Auskunft der Spitalverbunde selten ein Rückgriff auf Krankengeschichten statt, sei dies aus medizinischen Gründen (z.B. bei komplizierten Operationen, für die medizinische Forschung) oder durch Patientinnen und Patienten bzw. deren Angehörigen. Eine Ausnahme bilden Anfragen zur Geburtszeit, welche sich anhand der Geburtenbücher nachvollziehen lässt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass – abgesehen von den Geburtenbüchern – die rechtlichen Aufbewahrungsfristen der Patientenunterlagen mit der tatsächlichen Gebrauchsdauer übereinstimmt.
Im Hinblick auf die Transparenz des Verwaltungshandelns dürften für die Spitalverbunde und Spitäler allgemeine Richtlinien und Weisungen, Protokolle von Gremien, medizinische Protokolle und Krankengeschichten von längerfristigem Interesse sein. Während die beiden erstgenannten Unterlagentypen Rechenschaft über die Rahmenbedingungen und strategische Ausrichtung der Spitäler ablegen, geben die beiden letztgenannten Einblick in die tatsächliche Umsetzung und in den Spitalalltag.
Vereinbarung
Vereinbarung vom 28. März 2014 zwischen dem Staatsarchiv St.Gallen und dem Koordinations-Ausschuss des Verwaltungsrats der Spitalverbunde:
- Rechtliche und organisatorische Grundlagen (Leistungsaufträge, Weisungen, Leitfäden, Merkblätter, Organigramme etc.): Dauernde Aufbewahrung
- Protokolle der Spitalleitung, der Spitalkommission und der Spitalverbund-Geschäftsleitung: Dauernde Aufbewahrung
- Jahresberichte der Spitäler und der Spitalverbunde: Dauernde Aufbewahrung
- Personaldossiers von Chefärztinnen und Chefärzten und von Mitgliedern der Geschäftsleitung, der Ressort- und Departementsleitung und der Pflegedienstleitung: dauernde Aufbewahrung
- Übrige Personaldossiers: Vernichtung (10 Jahre nach Austritt aus dem Dienstverhältnis)
- Statistiken (detaillierte Statistiken Spitäler): Dauernde Aufbewahrung
- Geburtenbücher: dauernde Aufbewahrung
- Ein- und Austrittsbücher, Ärztliche Journale, Gynäkologische Journale, Operationsjournale: Angebotspflicht
- Krankengeschichten des Spitals Walenstadt: Auswahl dauernd
- Krankengeschichten der Spitäler Altstätten und Grabs: Vernichtung (nach 20 Jahren) bzw. – sofern kein Bundesgesetz oder medizinische Gründe dagegen sprechen – nach 10 Jahren
- Patientenverzeichnisse: Vernichtung (nach 20 Jahren)
- Medizinische Komplementärdokumentation: Vernichtung (nach 20 Jahren) bzw. – sofern kein Bundesgesetz oder medizinische Gründe dagegen sprechen – nach 10 Jahren
- Finanz- und Rechnungswesen: Vernichtung (nach 10 Jahren)
Schutzfrist
Zeitraumende
Schutzfristdauer
30 Jahre
Schutzfristkategorie
Sachakten (30 Jahre)
Ende der Schutzfrist
12/31/2043
Bewilligung
Staatsarchiv
Zugänglichkeit
Archivmitarbeiter/-innen
Physische Benutzbarkeit
Uneingeschränkt